Beitrag zur 27. NPO-Blogparade: Die Rolle des Engagements im demografischen Wandel

Arbeiten ohne Ende

Wir werden lebenslang arbeiten. Wir, das sind die Baby-Boomer, die in den 1960er-Jahren Geborenen. Wenn wir das heutige Rentenalter erreichen, werden in Deutschland über sechs Millionen Menschen weniger im erwerbsfähigen Alter leben. Gleichzeitig werden wir die Zahl der Rentner um mehr als fünf Millionen erhöhen. Im Jahr 2030 kommen auf einen Rentner nur noch 1,8 Erwerbstätige. Derzeit sind es noch fast 3,5. Unser Ruhestand, das ist der Moment, in dem der bestehende Generationenvertrag nicht mehr funktionieren wird.

Weniger als zwei Erwerbstätige der nächsten Generation müssen dann einen von uns finanzieren – und das zusätzlich zu den Kosten der Energiewende, zum steigendem Bedarf an Pflege und zu den mehr als zwei Billionen Euro Schulden, die wir hinterlassen. Man kann sich die alternde Gesellschaft in Deutschland wie ein umkippendes Gewässer vorstellen. Die Entwicklung verläuft lange Zeit schleichend. Aber irgendwann kommt der Moment, in dem der Sauerstoff nicht mehr reicht. Dieser Moment ist mit der Verrentung der Baby-Boomer erreicht – also in 15 bis 25 Jahren. Das ist nicht irgendwann, das ist morgen.

Das derzeitige Sozialsystem würde ab diesem Zeitpunkt nur dann noch halbwegs funktionieren, wenn die Produktivität der Wirtschaft enorm stiege. Dies ist indes kaum anzunehmen, wenn man bedenkt, dass zugleich das Durchschnittsalter der Belegschaften drastisch ansteigt und Fachkräfte Mangelware sind.

63, 65, 67…? Das ist nicht die Frage

Es ist daher eine gefährliche Verniedlichung, wenn Politik und Zivilgesellschaft den demografischen Wandel weiterhin mit der Formel „Wir werden älter, weniger und bunter“ beschreiben und die Republik mit Aussichten auf eine „Demografische Chance“ in Sicherheit wiegen. Diese rhetorische Figur spielt uns vor, wir müssten nur an einigen Stellschrauben drehen, um den Teich vor dem Umkippen zu bewahren. Ein paar Reförmchen, und ansonsten weiter wie gewohnt. Genau das genügt eben nicht.

Die aktuelle Rentendiskussion ist ein Ausdruck dieses Verharrens. Sie lenkt ab von der Notwendigkeit eines grundlegenden sozialen Wandels. Die Rente ist 63 ein falsches Signal. Doch was noch schlimmer ist: Die Debatte darum verfehlt den Kern der Sache. Es ist vergleichsweise irrelevant, ob wir mit 63, 65 oder 67 in Rente gehen. Keine dieser Zahlen ist geeignet, die oben beschriebene Herausforderung zu lösen. Ein späterer Renteneintritt kann die aufziehende Generationenungerechtigkeit allenfalls geringfügig mildern, nicht aber verhindern.

Die beschriebene Schieflage liegt nicht im absoluten Schrumpfen der Bevölkerungszahl begründet, sondern in der rasant steigenden Lebenserwartung. Seit den 1960er Jahren ist sie um etwa zehn Jahre gestiegen, während das Renteneintrittsalter unverändert blieb.

Statistisch gewinnt jede und jeder von uns mit jedem Jahr drei Monate Lebenszeit hinzu. Ein heute geborenes Mädchen hat eine rund 50prozentige Chance, das einhundertste Lebensjahr zu überschreiten. Tendenz steigend. Wer möchte diese Entwicklung umkehren? Sie ist ein großes Glück. Allerdings ist dieses Glück nicht zu verwirklichen, wenn einer 35 Jahre dauernden Erwerbsphase ein 30 Jahre währender Ruhestand folgt. Spätestens an diesem Punkt wird deutlich, dass wir das Phänomen nicht beherrschen werden, indem wir das Rentenalter zwei Jahre nach oben oder nach unten schrauben. Es braucht einen großen Wurf, eine neue Vision einer solidarischen und gerechten Gesellschaft.

Das neue Bild von Arbeit

Wir werden lebenslang arbeiten. Das klingt in den heutigen Konventionen wie eine Horrorvision. Allerdings nur deshalb, weil wir die Begriffe Arbeit und Erwerbsarbeit einander gleichsetzen. Das ist falsch und altertümlich. Und darin liegt das eigentliche Problem.Um es auf den Punkt zu bringen: Sollten wir keinen gerechten Generationenvertrag mehr hinkriegen, dann wäre das kein finanz- und sozialpolitisches, sondern ein kulturelles Scheitern. Wir brauchen dringend einen neuen Begriff von Arbeit. Einen Begriff, der Familienarbeit und Freiwilligenarbeit ebenso umfasst wie den Broterwerb.

Lebenslang arbeiten? Auch ich möchte nicht mit 75 noch in meinem Vollzeit-Job stecken. Umso besser kann ich mir aber vorstellen, begrenzt, projektbezogen und flexibel noch die eine oder andere Aufgabe für meinen Arbeitgeber zu erledigen. Dabei will ich über meine Einsatzzeiten selbst bestimmen. So werde ich meine Rente aufbessern, denn die gesetzliche fällt bei uns Baby Boomern schon ziemlich schmal aus.

Können unsere Arbeitgeber damit umgehen? Bisher nur in Ausnahmefällen, aber sie werden es schnell lernen müssen.

Einen weiteren Teil meiner Zeit werde ich nutzen, um meine Familie zu unterstützen – möglicherweise in der Pflege meiner hochbetagten Eltern oder bei der Betreuung meiner Enkel. Ist das Arbeit? Ja, was denn sonst! Und einige Zeit verwende ich auf mein bürgerschaftliches Engagement in meiner kleinen Stiftung und einer Energiegenossenschaft in meinem Heimatort.

Ich arbeite nach meiner Verrentung – bloß in einem anderen Vergütungssystem. Wir können lebenslang arbeiten, wenn wir Arbeit neu  bestimmen.

In diesem Mix der neuen Produktivität nimmt das bürgerschaftliche Engagement eine zentrale Funktion ein. Es ist der Ort, an dem gerade alte Menschen ihren berechtigten Anspruch auf lebenslange Teilhabe, Mitgestaltung und – ja – auch Mitverantwortung verwirklichen können.

Das Potenzial der Alten

Diese Teilhabe bis ins hohe Alter zu ermöglichen, ist eine der zentralen Herausforderungen für die Zivilgesellschaft in den kommenden Jahren. So wie die Wirtschaft gefordert ist, den zuvor szenisch beschriebenen, flexiblen Übergang von der Vollzeitarbeit in eine aktive nachberufliche Phase zu ermöglichen, stehen die Organisationen des bürgerschaftlichen Engagements vor der Aufgabe, die Potenziale des Alters zu entdecken und zu ermöglichen.

Die Generali Altersstudie hat in ihrer repräsentativen Befragung ergeben, dass die Engagementquote der 65- bis 85-Jährigen mit 45 Prozent deutlich über dem entsprechenden Wert in der Gesamtbevölkerung liegt. Überraschender als dieser Befund wirkt jedoch die Tatsache, dass 23 Prozent dieser engagierten Alten ihre freiwillige Tätigkeit erst im Alter begonnen haben. Die landläufige Vermutung, dass Bürgerengagement im Alter nahezu vollständig aus früheren Lebensphasen „mitgebracht“ werde, trifft also nicht zu. Alte können und wollen etwas starten. Dies wird durch die Aussage untermauert, dass über ein Drittel der mehr als 4.000 Befragten zu Protokoll gaben, ihr Engagement gerne ausweiten zu wollen, wenn sie darauf angesprochen und ihnen passende Möglichkeiten aufgezeigt würden.

Offenbar hat also die Zivilgesellschaft bei der Wertschätzung und aktiven Einbindung des Alters nicht weniger Nachholbedarf als die Wirtschaft. Zu diesem Nachholbedarf zählt zunächst die konsequente Abschaffung aller statischen Altersgrenzen. Die Tauglichkeit zur Ausübung eines möglicherweise physisch und psychisch belastenden Engagements muss künftig individuell bewertet werden. Der Fall der im Kern diskriminierenden Altersgrenzen ist allerdings nur einer von mehreren notwendigen Schritten.

Vor allem müssen zivilgesellschaftliche Organisationen flexible Aufgabenpakete schnüren und Formate erfinden, die sich für engagierte Alte eignen. Der Trend wird sich weg entwickeln vom universell einsetzbaren Hochleistungsengagierten mit einem 20-Stunden- Minimum und jederzeitiger Erreichbarkeit. Eine Alternative dazu gibt es nicht, denn die Alterung der Gesellschaft lässt sich nicht umkehren. Drastischer formuliert: Vereine, Verbände und Initiativen, die sich nicht altersgerecht organisieren, werden untergehen. Sie werden umkippen wie Tümpel ohne Sauerstoffzufuhr.

Ein besonderes Augenmerk verdient die wachsende Gruppe der Hochaltrigen ab dem 85. Lebensjahr. Sie wird gemeinhin gleichgesetzt mit Pflegebedürftigkeit und Demenz. Dass diese Altersgruppe mit Umsorgtwerden keineswegs zufrieden ist, sondern auch im höchsten Alter einen Anspruch auf Mitgestaltung erhebt, bleibt überwiegend unbeachtet. Ein grobes Versäumnis, wie die vor wenigen Wochen veröffentlichte Generali Hochaltrigenstudie des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg zeigt. Gerade sehr alte Menschenspüren sehr ausgeprägt den Wunsch, ihr Wissen an nachfolgende Generationen weiterzugeben und sich an der Gestaltung der Zukunft zu beteiligen. Mehr noch: Die Möglichkeit, diese Sorge und Verantwortung zu verwirklichen, wird als essenziell empfunden.

In krassem Gegensatz dazu – auch das erbrachte die Studie – steht das nahezu völlig fehlende Bewusstsein von Kommunen, Organisationen und Institutionen in „der Ältesten Rat“ ein Potenzial und eine Chance zu sehen, die es zu nutzen gilt.

Wir werden lebenslang arbeiten. Wollen oder müssen wir?

Wir müssen und wir wollen – wenn auch individuell in unterschiedlichem Maß. Ein lebenslanges Einbringen eigener Potenziale umfasst eine große Bandbreite an Möglichkeiten: Vom generativen Wirken eines hochbetagten Menschen, der im Gespräch mit Jüngeren seine Erfahrungen weitergibt bis zum zeitintensiven Engagement in vorderster Front. Von der zupackenden Hilfe in der Familie bis hin zum vergüteten weiteren Mitwirken beim alten Arbeitgeber. Nur eines wird nicht mehr funktionieren: den Ruhestand wörtlich nehmen.

An dieser Stelle protestiert ein Teil der Engagementprofi-Szene: Bürgerengagement dürfe schließlich niemals eine Verpflichtung sein – auch keine Selbstverpflichtung. Müssen wieder einmal die armen, missbrauchten Bürger ran in einem erodierenden Sozialsystem?

In der Tat. Sie müssen. Mir ist allerdings nicht begreiflich, was daran verwerflich sein soll, sofern es um Selbstverpflichtung im Sinne subsidiärer Mitverantwortung geht. Diese schließt solch abstruse Ideen wie ein soziales Pflichtjahr für Ältere ausdrücklich nicht ein. So etwas würde das oben beschriebene Problem nicht lösen. Es wäre letztlich nichts anderes als eine zwangsweise Arbeitszeitverlängerung bei einem anderen Arbeitgeber, mutmaßlich einem Wohlfahrtsunternehmen. Die nötige neue Definition von Arbeit wäre damit nicht geleistet – ganz im Gegenteil: die alte Konvention würde zementiert. Nein, der Auftraggeber für unsere lebenslange Arbeit sind wir selbst.

Ein längeres und länger gesundes Leben führt zu einem längeren und stärkeren Bedürfnis nach Gestaltungsmöglichkeiten und Potenzialentfaltung im Alter. Das weisen Gerontologen inzwischen zweifelsfrei in zahlreichen Studien nach – und zwar unabhängig vom sozialen Status. Die Tage können lang werden in der Gartenlaube oder auf Mallorca. Mitmachen ist  spannender.

Wir werden lebenslang arbeiten. Und wenn wir das richtig verstehen und gut organisieren, dann ist es eine Verheißung.

Uwe Amrhein

Uwe Amrhein hat die Stiftung Bürgermut gemeinsam mit dem Stifter Elmar Pieroth aufgebaut und ist heute ehrenamtlicher Vorstand. Hauptamtlich arbeitet Amrhein als Leiter des Generali Zukunftsfonds. Zuvor war er Referatsleiter Presse und Information beim hessischen Main-Kinzig-Kreis und Chefredakteur einer lokalen Tageszeitung in der Rhein-Main-Region. Die Förderung des bürgerschaftlichen Engagements gehört seit Jahren zu seinen Arbeitsschwerpunkten.

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