Mehrflüchtlingshilfe e.V.: Echte Nachbarschaftshilfe und Vernetzung auf Augenhöhe

Youssef „Joe“ Chemao von Mehrflüchtlingshilfe e.V. beim openTransfer Camp #Ankommen am 24.9.2016 in Düsseldorf

Joe Chemao beschreibt seine Erfahrungen bei der Gründung eines Unterstützerkreises für Geflüchtete in Duisburg. Das Netzwerk setzt dabei auf echte Freundschaften und bringt neuankommende Menschen mit jenen zusammen, die bereits länger in Deutschland leben oder hier geboren sind.

Anfänglich, als klar war, „dass da wirklich Leute kommen“, wollten sich in Duisburg, wie auch in vielen anderen Orten, Menschen aktiv engagieren. Jedoch wusste niemand, wie das gehen könnte und wer eigentlich zuständig war. Chemao wurde von einer Stelle zur nächsten geschickt und gelangte über den Kontakt zur Diakonie an eine Unterkunft für Geflüchtete, wo er mit Freunden den Verein Mehrflüchtlingshilfe e.V. gegründet hat. Sie sind seitdem nahezu täglich vor Ort in dieser und anderen Unterkünften unterwegs.

„Es gibt nicht DIE Flüchtlinge“
Chemao hat während der letzten Monate sehr viele unterschiedliche Menschen kennengelernt. Er identifiziert drei Hauptprobleme, die viele Engagieret kennen würden:
1. Informationsdefizit: Das reiche von fehlenden Sprachkenntnissen über Bestimmungen zum Asylverfahren bis hin zu Einkaufsmöglichkeiten in der Umgebung. Oft sei lediglich der Sicherheitsdienst präsent, kann aber zu den Fragen des täglichen Lebens meist wenig sagen.
2. Eingeschränkte Mobilität: Besonders Menschen mit Kindern wüssten oft nicht, wie sie die vorhandenen Angebote nutzen können oder wie man von A nach B komme, um z. B. den Sprachkurs oder Sportangebote wahrzunehmen.
3. Fehlende soziale Kontakte außerhalb der Einrichtungen: Da innerhalb der Unterkünfte die Menschen i. d. R. dieselben Probleme hätten, könnten sie sich gegenseitig schlecht weiterhelfen.

Ein junger Mann erklärt etwas vor einer kleinen Runde von Zuhörern. kleine

Oft werde vergessen, dass sich die Geflüchteten auch untereinander ziemlich fremd seien und nicht immer gegenseitig vertrauten, selbst wenn sie aus dem gleichen Land kämen. Anfangs seien viele noch hochmotiviert und engagiert. Oft sähe das nach „einem Jahr Turnhalle“ aber anders aus. Auch deshalb würden viele Menschen wieder aus Deutschland weggehen.

Der Ansatz des Netzwerks setze auf die Anbahnung von Kontakten und die Weitergabe von Informationen. Außerdem sollen Räume geschaffen werden, wo sich Menschen begegnen könnten – und zwar immer auf Augenhöhe. So initiierte der Verein bereits ein Fußballprojekt oder ein Kindercafé, das vor allem für Eltern mit jungen Kindern gedacht sei und Neuankommende und Eltern ohne Kitaplatz ins Gespräch bringen möchte. Die Räume dafür hätten sie kostenlos zur Verfügung gestellt bekommen. Da Geflüchtete oft in kommunalen oder beschlagnahmten Wohnungen untergebracht würden, habe der Verein ebenfalls einige Räume mietfrei in den gleichen Häusern übernehmen und dort ein Beschäftigungsangebot schaffen können, was den Hausfrieden (vor allem mit den Miete zahlenden Parteien) wahren würde. Zudem gebe es nun auch ein Theaterprojekt mit einem Schauspieler aus Damaskus. Chemao fasste es so zusammen: „Die Projekte laufen mal besser und mal schlechter, aber immer entstehen dabei Freundschaften!“

Persönliche und finanzielle Grenzen
Welche Schwierigkeiten es gebe, mit denen die Vereinsarbeit verbunden sei? Manchmal seien es die Eltern der „deutschen“ Kinder, die während des Fußballspiels rassistische Äußerungen machten. Manchmal seien es schlicht die leeren Kassen, die weder das Finanzieren von Sachmittel noch Aufwandsentschädigungen zuließen. Chemao beschrieb das Dilemma des ausschließlich ehrenamtlich organisierten Vereins so: Es gebe zurzeit viele Fördertöpfe im Bereich der Flüchtlingshilfe. Größere und etabliertere Organisationen würden diese Töpfe abgrasen, hätten aber gar keinen Kontakt zu den Betroffenen. Die Organisationen wendeten sich dann wiederum an Chemao, um Geflüchtete für die jeweiligen Projekte zu begeistern. Wie sich derzeit auch in anderen Initiativen zeige, sei bei vielen Engagierten die Luft raus: „Du kannst dich maximal um zwei Familien kümmern“, weiß er aus Erfahrung. Daher ziehe sich der Verein nach der erfolgreichen Kontaktanbahnung wieder zurück und setze mehr auf Freundschaften als auf Patenschaften oder Tandemformationen, bei denen den Personen immer eine bestimmte Funktion zugeschrieben werde.

Echte Nachbarschaftshilfe
Die in der Session formulierte Forderung nach echter Nachbarschaftshilfe wurde auch in der Runde geteilt. Für viele stand fest: „Wir brauchen die Bürgerinnen und Bürger, um die Flüchtlinge aktiv zu integrieren.“ Doch wie Menschen für ein langfristiges Engagement begeistert werden könnten, wurde nicht abschließend beantwortet. Alle, die wollen, würden bereits helfen und seien mitunter ausgebrannt. Chemao wies schließlich noch auf eine negative Entwicklung hin: „Es ist salonfähig zu sagen, dass man gegen Flüchtlinge sei.“ Er führte dies auf das Schüren von Ängsten durch die Medien zurück und meinte, dass viele Menschen mit gefährlichem Halbwissen argumentierten. Aus seinen persönlichen Erfahrungen wisse er, dass sich negative Nachrichten schneller verbreiten als die vielen positiven Beispiele, die er täglich im direkten Kontakt mit den Menschen erlebten.

http://mehr-fluechtlingshilfe.de/

Foto: Thilo Schmülgen

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Johanna Voll

Johanna Voll studierte Interkulturelle Europa- und Amerikastudien in Halle (Saale) sowie Soziokulturelle Studien an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), wo sie mittlerweile als akademische Mitarbeiterin tätig ist. Zuvor hat sie u.a. in der Onlineredaktion vom BBE (Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement) die Social Media-Kanäle betreut. An der Viadrina beschäftigt sie sich nun mit der Reorganisation von Erwerbsarbeit in der Wissensgsellschaft und untersucht das Phänomen Coworking und seine Räume. Besonders spannend findet sie auch die Schnittstellen von Social Media und Wissenschaft und versucht genau das den Studierenden zu vermitteln.

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